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Texte auf Deutsch

 

=========================================================================== Stört die Kirche in Polen den sozialen Frieden?, in: 45. Internationaler Kongreß "Kirche in Not". Osteuropa - die Christen und der Friede in der Gesellschaft, Bd. 43/1995, Königstein, S. 93-104 ===========================================================================
STÖRT DIE KIRCHE IN POLEN DEN SOZIALEN FRIEDEN?
1. Vorüberlegungen zur Titelfrage
Die Titelfrage enthält eine nicht geringe Provokation, vor allem, wenn man zwei Umstände berücksichtigt.
Der erste Umstand ist, daß diese Frage den tatsächlichen - wenn auch verschiedentlich motivierten - Zweifel vieler Menschen in und außerhalb Polens widerspiegelt, die nicht mehr verstehen, welche Rolle die katholische Kirche in der sich verändernden polnischen Gesellschaft für sich beanspruchen möchte. Im Ausland wird er in einer oder anderen Form gerade von Menschen geäußert, die nicht selten eine lange Erfahrung in Kontakten mit der katholischen Kirche in Polen haben. Der angesprochene Zweifel entspringt der Beobachtung nicht nur der gesellschaftlichen Spannungen und Konflikte, in deren Mitte die katholische Kirche in Polen steht, sondern auch der Spannungen innerhalb der Kirche selbst.
Der zweite Umstand ist, daß diese Frage sich auf die katholische Kirche in Polen bezieht, deren Sonderrolle nicht nur bei der Abschaffung des Kommunismus, sondern auch beim Werden der demokratischen Opposition - aus deren Mitte ihre nicht wenige Kritiker stammen - weitgehend anerkannt ist. Sollte sich die katholische Kirche in Polen, die einst die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte zu integrieren wußte, zum Störenfried entwickelt haben? Hat sie sich zurückentwickelt? Hat sie Ihre Offenheit verloren, die sie zum Ort der Begegnung mit Menschen anderer weltanschaulicher Herkunft werden ließ? War ihre frühere Rolle als Ort des gesellschaftlichen Dialogs nur Taktik, hinter der sich ihr Herrschaftsstreben verbarg?
Was mit diesen Fragen ins Spiel gebracht wird, ist die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche in Polen und damit sowohl die Zukunft ihrer Sendung in Polen selbst als auch ihr Beitrag zur geistigen Erneuerung Europas.
Ich gehe also davon aus, daß der Titelfrage weder verkapptes Urteil noch ein Vorurteil zugrunde liegt, wonach von der katholischen Kirche und insbesondere von der Kirche in Polen nur noch Überkommenes und Störendes zu erwarten sei. Ich betrachte sie vielmehr als Ausdruck der Sorge um die Authentizität des Beitrags, den das Christentum katholischer Prägung zur Entwicklung einer modernen, dialogisch offenen und wertorientierten Gesellschaft leisten kann. Daß eben diese Fragen gerade auch von Menschen gestellt werden, die der katholischen Kirche und Polen gut gesonnen sind, muß nachdenklich stimmen, weil das zumindest ein Zeichen für die ungenügende Kommunikation ist, wenn nicht sogar ein Zeichen für den Mangel an dem innerkirchlichen und innergesellschaftlichen Dialog. Insofern will mein Vortrag eine Verständnishilfe sein, die offen bleibt auf Wahrnehmungen und Reflexion der Anderen.
2. Narben der Geschichte
Da wir ja verstehen und nicht urteilen wollen, dürfen wir nicht vergessen, daß die jetzige Lage der Kirche immer noch weitgehend durch die Ungerechtigkeiten bestimmt ist, die sie in den Jahrzehnten des Totalitarismus erlitten hat. Selbst die Wahrnehmung der Folgen der jahrzehntelangen Existenz unter den Bedingungen des totalitären Staates, die tief und nachhaltig fast alle Bereiche des kirchlichen Lebens bedingten und der Umgang mit diesen Folgen sind keineswegs unumstritten. Nur mit Mühe und Not setzt sich in der Kirche das Bewußtsein durch, daß sie sich von ihrem bisherigen Gegnern manche Krankheiten geholt hat und daß der Schaden nicht nur an der Seele des christlichen Volkes, sondern auch an der der katholischen Geistlichkeit zu merken ist. Eine ernste öffentliche, innerkirchliche Diskussion und Reflexion über den negativen Einfluß der Ungerechtigkeit und des Kampfes gegen sie auf den Stil des kirchlichen Lebens und Wirkens kommt nur sehr zögernd zustande. Hemmend wirkt sich hier sicherlich die Tatsache aus, daß der meinungsbildende Prozeß z. B. innerhalb des Episkopats sehr reduktiv dargestellt wird, als ob es sich um Fraktionenstreit in den politischen Parteien handeln würde. Das aktiviert verständlicherweise Abwehrmechanismen, die sowohl der offenen Meinungsbildung als auch der Werbung für das tiefere Verständnis der religiösen Sendung der Kirche nicht dienlich sind. Dazu kommt, daß die jahrzehntelange Erfahrung mit dem ideologischen Staat ganz andere Verhaltensweisen begünstigt hat. Größte Bemühung um die Wahrung der Einheit war das Gebot. Die Geheimhaltung der Beratungen und die äußerste Zurückhaltung in der öffentlichen Bekundung der Meinungsuterschiede war die natürliche Konsequenz des Lebens unter den Bedingungen des Totalitarismus. In jener Zeit wurden von Priestern, Bischöfen und Laien zum Teil ganz andere Tugenden verlangt als das heute der Fall ist. Vereinfachend läßt sich sagen, daß damals von den einzelnen Bischöfen nicht Vordenkerfunktion, sondern vor allem Loyalität und Treue gegenüber der Linie, die weitgehend der Kardinal Primas Wyszyñski bestimmte, erwartet wurde; von den Priestern wiederum, daß sie in den Gemeinden dafür sorgen, daß einerseits die Laien durch ihr Engagement in der Kirche nicht unnötigerweise gefährdet und andererseits die geplanten Initiativen durch Geheimpolizei nicht unterwandert werden; von den Laien die Bereitschaft, ihre Identifikation mit der Kirche in den Massenveranstaltungen zu bekunden. Die Personen, die noch vor einigen Jahren kirchlicherseits die Opposition unter ganz anderen Bedingungen unterstützten, sind bis auf wenige Ausnahmen dieselben, die auch heute das Leben der Kirche und der Gesellschaft prägen. Das Heraustreten aus alten Rollen und Vorstellungen ist nicht einfach. Wer Dankbarkeitsbekundungen seitens der einstigen Schützlinge von der Opposition erwartet hat, wird möglicherweise enttäuscht sein, wenn seine Verdienste nicht gebührend gewürdigt und belohnt werden. Die Geschichte macht ja bekanntlich keine Pausen, bis die neuen Persönlichkeiten z. B. im Episkopat sich herausbilden, bis die neuen Tugenden angeeignet und die neuen Einsichten gewonnen werden. Für viele ist die psychologische Lage sehr unbequem: sie haben einerseits das Bewußtsein, zur Abschaffung des Kommunismus entscheidend beigetragen zu haben und andererseits sehen sie sich mit einem Stimmungswechsel in der Gesellschaft konfrontiert, der für viele Insider nicht nachvollziehbar und auch menschlich schwer zu verkraften ist. Deshalb liegt die Versuchung nahe ungeachtet der völlig veränderten Lage das alte - zum Teil unbewußt von den früheren Gegnern übernommene - Freund-Feind-Schema unkritisch anzuwenden.
Andererseits hat sich die kulturelle und gesellschaftliche Basis des kommunistischen Regimes nicht in der Luft aufgelöst. Man sieht mit bloßem Auge das Fortbestehen einer gesellschaftlichen Formation, deren Stärke in der Erzeugung und Aufrechterhaltung der Feindbilder bestand und weiterhin besteht. Der Verlust des Macht- und Kulturmonopols, bei dessen Abschaffung die katholische Kirche eine entscheidende Rolle spielte, wurde bloß hingenommen, aber nicht durch die Einsicht in die eigene geschichtliche Verantwortung ergänzt. Die früheren "Wohltäter der Nation" fühlten sich eher mißverstanden als beschämt und arbeiteten fleißig, um ihre Organisationsstrukturen möglichst unbeschadet für die spätere Zeit zu erhalten. Sie waren dadurch begünstigt, daß einerseits die Entkommunisierung nicht stattgefunden hat und daß andererseits die politischen Kräfte, die aus der "Solidarno¶æ" hervorgegangen sind, hoffnungslos zerstritten und zersplittert sind. Die einstige Nomenklatura und die früheren "Arbeiter der ideologischen Front" (z. B. Journalisten) haben im Zuge des politischen Umbruchs zwar die Monopolstellung verloren, konnten aber ungehindert ihre politische Rückkehr vorbereiten. Ein zentrales Element dieser Vorbereitung war ein seltsames propagandistisches Manöver, das einem Racheakt an der katholischen Kirche gleichkommt. Durch geschickte Manipulation der Sprache wurde erreicht, daß sich im gesellschaftlichen Bewußtsein eine Substitution vollzogen hat: an die Stelle der aufgelösten "Vereinigten Arbeiterpartei" wurde die katholische Kirche geschoben, der man unterstellte, daß sie die Übernahme der "führenden Rolle" [rola przewodnia] in der polnischen Gesellschaft anstrebt.1 Der Schlüssel zur Interpretation aller Schritte der katholischen Kirche war gefunden und geliefert. Das eigentliche Ziel der Kirche - der konfessionelle oder zumindest der klerikale Staat, war nun demaskiert. Es gab wieder eine mächtige, unkontrollierte Institution, die auf alles Einfluß nahm und die allen vorgeschrieben hat, was sie tun sollen. Die in Folge des politischen Umbruchs unverständlich gewordene gesellschaftliche Wirklichkeit ist für einen nicht geringen Teil der polnischen Bevölkerung wieder verständlich geworden. Nach dem nun praktizierten Interpretationsmuster unterschied sich der Machtanspruch der katholischen Kirche wenig von dem der kommunistischen Partei. Polen drohte ein neuer Totalitarismus. Die Erben des Kommunismus' sind nun zu Lehrmeistern und Verteidigern der bedrohten Demokratie geworden. In einem vor wenigen Wochen in "La Stampa" (vom 9. 08. 95) veröffentlichtem Interview hat der Presidentschaftskandidat der Postkommunisten Kwa¶niewski diese Deutung bestätigt, indem er explizite sagte, daß es in Polen nur zwei sehr gut organisierte politische Kräfte gäbe - Bündnis der Demokratischen Linke und die katholische Kirche. Noch mehr: niemand verfüge über die Mittel, die die Pfarrer haben und die materiellen Mittel der katholischen Kirche "übersteigen unendlich die Mittel, die irgendeiner Partei zur Verfügung stehen". Implizite gab er damit zu verstehen, daß Polen zwischen demokratischer Erneuerung und kirchlicher Bevormundung zu wählen haben. Die Reduktion der Kirche zur Organisation mit politischen Machtambitionen macht den Kern des Substitutionsmanövers der Postkommunisten aus. Das Substitutionsmanöver wurde leider sehr spät erkannt, so daß einerseits jeder Versuch der Einflußnahme der Bischöfe auf die aktuelle bzw. künftige Gestalt des gesellschaftlichen Lebens in Polen propagandistisch im Sinne der reduktiven Substitutionslogik gegen die Kirche ausgeschlachtet und andererseits jede - auch berechtigte - Kritik an den Vorstellungen der katholischen Kirche als Teilargument für den postkommunistischen Syllogismus verwendet werden konnte. So glaubten und glauben die Verantwortlichen der katholischen Kirche einem frontalen Angriff der vereinigten antichristlichen Kräfte ausgesetzt zu sein, ohne zu merken, daß sie durch die Art ihrer Reaktion die Unterstellung der Postkommunisten bestätigten. Die Dialektik schädigt diejenigen, die sich in ihren Mechanismus verwickeln lassen und die durch sie zugewiesenen Rollen auch nur unbewußt übernehmen. Alles, was im Verhalten der katholischen Kirche nur den Anschein des politischen Anspruchs erweckte, wandte sich unausweichlich gegen sie.
Die frisch gebackenen Demokraten haben es vergessen, daß die Wachablösung ganz anders hätte verlaufen können und daß die katholische Kirche ihren Einfluß geltend gemacht hat, damit der Machtwechsel auf friedlichem Wege erfolge. Der ureigenste Beitrag der katholischen Kirche auf dem Weg der polnischen Gesellschaft zur freiheitlichen Demokratie war - neben dem Einsatz für Menschenrechte - ihre Arbeit, um die Versöhnungs- und Dialogbereitschaft inmitten der polnischen Gesellschaft zu wecken, zu stärken und zu entwickeln. Die katholische Kirche in Polen hat den Prozeß der Demokratisierung gerade deswegen beeinflußen können, weil sie sich nie als eine politische Kraft verstanden hat, die nach der Macht im Staate langen würde. Gerade das Fehlen der politischen Machtambitionen hat der Kirche erlaubt in den entscheidenden Momenten des politischen Geschehens die Rolle einer vertrauenswürdigen Vermittlerin zu spielen. Als Vermittlerin gewann sie auch das Vertrauen jener oppositionellen Kräfte, deren ideelle Heimat nicht das Christentum war. Der Einsatz der katholischen Kirche in Polen diente also nicht dem Machtkampf oder der Vorbereitung einer Revolution im traditionellen Sinne dieses Wortes, sondern der Wiederherstellung der Würde des Menschen, der als Bürger und Arbeiter durch das menschenverachtende System gedemütigt wurde. Gewiß, besaß dieser Einsatz höchst politische Bedeutung, die darin bestand, daß die katholische Kirche ihren Beitrag zur Schaffung der Möglichkeitsbedingungen eines Demokratisierungsprozesses geleistet hat.
Im Lichte dieser geschichtlichen Leistung der katholischen Kirche in Polen erscheint es unverständlich, wie es überhaupt zur soeben beschriebenen Substitution im gesellschaftlichen Bewußtsein kommen konnte. Uns interessiert vor allem, was die katholische Kirche falsch gemacht hat, daß eine solche machiavellistische Operation zum Teil erfolgreich werden konnte. Welche Schwächen des polnischen Volkskatholizismus werden hier sichtbar? Diesen Fragen wenden wir uns jetzt zu. Denn nicht alles läßt sich mit dem Fehlen der Entkommunisierung und mit der politischen Konfliktualität der Postsolidarno¶æ-Parteien oder mit der Undankbarkeit der ehemaligen Verbündeten aus dem Widerstand erklären. Die Theorie einer Verschwörung, die manchen katholischen Publizisten die Mühe der selbstkritischen Fragen und der Analyse erspart, kann ich nicht mitmachen, weil sie der Komplexität der pluralistischen Gesellschaft wenig Rechnung trägt und der Sendung der Kirche direkt schadet, indem sie sie in eine belagerte Burg wieder verwandelt und darin verschließt.
3. Religiöse Sendung mit politischen Mitteln?
In den gesellschaftlichen und machtpolitischen Umwälzungen der letzten Jahre ist die katholische Kirche als einzige Institution geblieben, die aus dem Zusammenstoß mit dem Kommunismus unter mancher Rücksicht gestärkt hervorgegangen ist. An der Schwelle der Demokratie war sich die katholische Kirche in Polen ihrer Rolle, die sie in der älteren und neueren Vergangenheit bei der Verwirklichung der Aspirationen der polnischen Gesellschaft gespielt hat, sehr selbstbewußt. Dankbarkeit gegenüber Gott, aber auch ein machtvolles Hochgefühl und Erwartung der Würdigung der Verdienste der Kirche in der neuen Gesellschaftsordnung kamen zum Vorschein. Das Verständnis ihrer künftigen Rolle stützt sich bis heute mehr auf die unbestreitbaren Verdienste in der Vergangenheit, als auf die Analyse der gesellschaftlichen Veränderungen und auf die Verinnerlichung des Geistes der Ekklesiologie der Konzilskonstitution "Gaudium et spes". Bis zum politischen Umbruch 1989 war die Rolle der katholischen Kirche in Polen durch die Schicksalsgemeinschaft bestimmt, zu der das erlittene Unrecht die Kirche mit der polnischen Gesellschaft in den letzten zwei Jahrhunderten zusammegeschweißt hat. Diese Schicksalsgemeinschaft ist als besondere Gnade der Vorsehung und nur im beschränkten Maße als ein Verdienst zu betrachten. Freilich wurde diese Gnade bewußt angenommen, aber auch im Hinblick auf die zukünftigen Aufgaben wenig durchdacht und kaum mit der Erfahrung und dem Weg der anderen Kirchen konfrontiert. Aus der Schicksalsgemeinschaft scheint sich gegenwärtig für die Kirche in Polen nur ein Festhalten an der Vergangenheit zu ergeben.
Es war in den letzten Jahrzehnten eine bemerkenswerte Leistung der katholischen Kirche in Polen, über die Einforderung der Eigenrechte hinauszugehen und diese als Teil der natürlichen Menschen- und Bürgerrechte zu verstehen. Der Einsatz in diesem Sinne schaffte die Voraussetzungen für eine Begegnung, die nicht nur für die politische und geistige Entwicklung Polens von Bedeutung zu sein schien: die katholische Kirche in Polen wurde zum Ort, wo Katholiken zusammen mit den Erben der Aufklärung den Weg zur Freiheitlichen Demokratie vorbereiteten und praktizierten. Diese Begegnung, die sich damals zwischen den liberalen Erben der Aufklärung und vielen Christen ereignete, hat es bewirkt, daß einerseits das aufklärerische Vorurteil, demnach die christliche Kirche ihrem Wesen nach eine reaktionäre, auf die Wiedergewinnung der privilegierten Stellung in Staat und Gesellschaft pochende Kraft sei, mächtig erschüttert und daß andererseits der unter den Christen verbreitete Verdacht, die Menschen jener kulturellen Herkunft seien Feinde, denen Moral fehlt, in Frage gestellt werden konnte. Diese Begegnung war nicht oberflächlich. Sie hat eine unerwartete Gemeinsamkeit auf den Tag gelegt und auf beiden Seiten einen besonderen Menschentypus entstehen lassen, der seine Berufung darin sieht, aus der in Zusammenarbeit und im Dialog entstandenen Gemeinsamkeit neue Grundlage des sozialen Lebens zu machen.
Die Entwicklung, die ich hier skizziert habe, die noch 1989 deutlich sichtbar und Anlaß für die Hoffnungen war, scheint in den darauf folgenden Jahren ihre Auswirkung verfehlt zu haben. Beide Seiten der Begegnung riskieren den Rückfall hinter den intellektuellen und moralischen Mut von gestern. In der zum Teil dramatischen Entwicklung der politischen Szene hat die Kirche nicht mäßigend bzw. vermittelnd gewirkt, sondern sie hat sich zunehmend auf einige Akteure dieser Szene gestützt, die ihre Erwartungen im Hinblick auf die gesetzesmäßige Umsetzung ihrer Wertvorstellungen und im Hinblick auf die Anerkennung ihrer Rolle in der Gesellschaft zu erfüllen versprachen. Es entstand der Eindruck, daß es der Kirche doch vor allem um die Einforderung der eigenen Rechte und um die Sicherung ihrer institutionell-rechtlichen Stellung in Staat und Gesellschaft unabhängig von anderen Teilnehmern am gesellschaftlichen Leben geht. Das wirft Schatten auf den Evangelisierungsdienst der Kirche, weil es den Verdacht aufkommen läßt, daß die Kirche politisch nicht uneigennützig ist. Ich möchte nicht sagen, daß der Eindruck der politischen Eigennützigkeit in dem Umfang begründet ist, wie es die Kritiker behaupten. Ich schreibe den Bischöfen auch nicht die Absicht zu, die Akzentsetzungen von der religiösen Sendung auf die politische Rolle so zu verschieben, als ob sie auf die politischen Mittel bei der Verwirklichung der religiösen Sendung ihre Hoffnungen setzen würden. Ich sehe nur, daß ein Teil der Gläubigen beunruhigt ist und wünscht, daß die Kirche nicht sich selbst und ihre historischen Verdienste verkünde, sondern daß sie das einmal mutig angefangene Werk des gesellschaftlichen Dialogs und der Versöhnung fortsetze und in das gesellschaftliche Leben das einbringe, was sie am kostbarsten hat: das Gottesbild des Evangeliums. Es geht u. a. darum, daß in der Verkündigung der Kirche die Verdammung des Bösen nicht die frohe Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes verdränge; darum, daß die berechtigte Sorge um die wirksame Eindämmung des Bösen auch mittels der staatlichen Gesetzgebung nicht einseitig werde und nicht auf Kosten der Darstellung der Schönheit und des Wertes einer Lebensgestaltung nach dem Evangelium geschehe. Ist es eben nicht so, daß katholische Kirche in Polen nach dem Wegfall des Totalitarismus sich viel öfters auf ihre Rolle als "Zeichen des Widerspruchs" beruft, als darauf, daß sie Zeichen der Liebe und der Versöhnung sein möchte? Selbst die Opposition der Kirche zum Marxismus war ja keine bloße Gegnerschaft; sie fußte eben auf dem Bekenntnis zu eigenen Grundwerten und nicht nur auf der Verneinung der Gegenposition. Dadurch hat sich doch die katholische Kirche weitgehend den zerstörerischen Folgen der Dialektik entziehen können. Das Bewußtsein der eigenen Werte hat unerwartete, angstfreie Begegnungen ermöglicht. Heute scheint dieses Bewußtsein der Werte, deren Trägerin die Kirche ist, erheblich geschwächt zu sein, und viel stärker macht sich das Bewußtsein der Bedrohung bemerkbar als der Chancen die mit der Erlangung der Freiheit zusammenhängen. Die Stärke der Kirche besteht nicht im Widerspruch, nicht in der Negation, nicht in der Verdammung, sondern in der frohen und frohmachenden Botschaft, die selbstverständlich den Widerspruch erleidet, aber ihn nicht setzt. Auf der Grundlage der Negation, die sich notwendigerweise auf die Erfahrung des Bösen konzentriert, keimt hier und dort ein sektiererisches, intolerantes Welt-, Kirchen- und Gottesverständnis auf. Es genügt ein Blick in einen Teil der katholischen Diözesanpresse, in die katholische Tageszeitung "S³owo" und in manche Sendungen des katholischen Rundfunksenders "Radio Maryja", um sich zu überzeugen, wie stark der Geist der Negation ist. Die Duldung dieses Geistes der Negation leistet in der Tat Haltungen und Ansichten den Vorschub, die einerseits der Substitutionslogik der Postkommunisten ungewollt dienen und andererseits der Evangelisierung schaden, indem sie ein wenig anziehendes Bild des Christentum vermitteln. Viele kirchlichen Kreise scheinen die Logik der Feindschaft und das Argumentationsniveau von ihren Gegnern übernommen zu haben. Damit tragen sie ihren Teil der Verantwortung für das Schlachtfeldklima, das für viele Grund genug ist, um sich aus allem herauszuhalten und sich auf die Privatsphäre zu konzentrieren.
Wenn für die Kritiker die Kirche mit ihrer Organisation eine bedrohende Kraft für die Demokratie in Polen darstellt, fühlt sich dagegen die Kirche selbst als Opfer eines ungleichen Kampfes, deren eine Fälschung der neuesten Geschichte und die totale Verkennung ihrer Absichten zugrunde liegt. Das Paradox liegt darin, daß die Kirche Recht hat; sie tut sich aber sehr schwer mit einer überzeugender, positiver Antwort auf die Herausforderungen der Transformationszeit. Die Verdrängung und Marginalisierung der christlichen Wertvorstellungen geht daher weiter auch durch die Überbewertung und Bevorzugung der ausgesprochen antichristlichen Initiativen, die man gerne zu Sprechern der Gesellschaft kreiert. Was in der Taktik der Gegner besonders zum Vorschein kommt, ist ein systematisches Nicht-Wahrnehmen-Wollen der modernen Entwicklung, die in der katholischen Kirche spätestens seit dem Konzil im Hinblick auf die Bestimmung ihres Standortes in der pluralistischen Gesellschaft stattgefunden hat. Daß aber die Kirche selbst nicht imstande ist diese Entwicklung in der polnischen Gesellschaft überzeugend zu verkörpern, ist leider die andere Seite der Medaille. Ein Beispiel dafür sei die unverständliche Aufwertung der Tageszeitung der Pax-Bewegung "S³owo Powszechne" durch ihre Umfunktionierung zu katholischen Zeitung Polens "S³owo - Dziennik Katolicki". Abgesehen davon, daß diese Entscheidung einer Rehabilitierung der Pax-Bewegung gleichkommt, die in der kommunistischen Zeit eine üble Rolle gespielt hat, wird als besonders schmerzhaft empfunden, daß ihre Linie, die grob als national-integristisch bezeichnet werden kann und die die katholische Öffentlichkeit stark polarisiert, durch die Bischöfe angenommen zu sein scheint. Das kirchliche Selbstverständnis, das dort in manchen Artikeln zu Wort kommt und dem offensichtlich nicht widersprochen wird, steht dem Geist der Bewegung der Traditionalisten von Lefevre näher als dem des Konzils. Vielen Artikeln liegen grobe Vereinfachungen der Ideengeschichte zugrunde, die den Liberalismus und den Totalitarismus aus denselben Wurzeln ableiten und ein schwarz-weißes, wahrhaft manichäistisches Bild der Gegenwart und der Geschichte vortragen, das bis ins Detail an kommunistisches Geschichtsbild erinnert. Der Klassen- und Volksfeind ist in etwa durch den Religionsfeind und den Kosmopoliten, der fremden Interessen und Idealen dient, ersetzt worden. Kreise - wie die von "Znak" und "Tygodnik Powszechny", die in der schwierigsten Zeit würdig widerstanden haben - werden auf den Spalten dieser Zeitung schärfstens angegriffen. Die Konflikte innerhalb des Katholizismus, die das kirchliche Selbstverständnis in der modernen Welt betreffen, sorgen leider auch um zusätzliche Verwirrung. Sie treten in Polen relativ stark auf, weil die vorkonziliare Mentalität und Sprache wie in einem Kühlschrank aufbewahrt wurden. Dasselbe läßt sich sagen von der antiklerikalen Rhetorik und überkommenen Vorstellungen von Kirche und Religion überhaupt. Die Menschen der Mitte sowohl auf der katholischen als auch auf der nichtkatholischen Seite haben es deshalb sehr schwer. Ganz besonders aber sind durch die entstandene Lage die Hirten gefordert, denn sowohl die innerkirchlichen Konflikte als auch die Konflikte der Kirche mit der zivilen Gesellschaft sind dieser Art, daß sie eine unmittelbare Herausforderung für die Sendung der Kirche darstellen. Wiederholen wir noch einmal: was auf dem Spiel steht, ist die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihre Fähigkeit nicht nur Seelsorge ad intra zu praktizieren sondern vor allem die Sendung ad extra so zu gestalten, daß die frohe Botschaft neue Generationen ansprechen kann.
4. Wie geht es weiter?
Am Ende dieser Skizze einer Analyse der komplizierten und sich gegenseitig beeinflussenden Mechanismen, in die Kirche und Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen verwickelt sind, kann man schwer präzise Ratschläge erteilen und noch schwerer einen Prophet spielen wollen. Dennoch, wenn die Grundideen dieser Ausführungen stimmen, scheint es möglich wenigstens einige Schlußfolgerungen zu formulieren.
Es wäre sehr wichtig, das es der katholischen Kirche in Polen gelänge die ihr durch das Substitutionsmanöver aufgezwungene Dialektik zu durchschauen und zu verlassen. Das kann vor allem auf der Ebene des richtigen Ton- und Wortgebrauchs geschehen. Auch der häufige Rückgriff auf das Selbstverständnis der Kirche im Bezug auf ihre Präsenz in der pluralistischen und demokratischen Gesellschaft, wie es in «Gaudium et spes» aber auch in den späteren Enzykliken zum Ausdruck kommt, würde ohne weiteres zur Aufhebung der Verdächtigungen und zur Verbesserung des Klimas beitragen. Nebenbei sei bemerkt, daß eine Anstrengung notwendig ist, um die katholische Soziallehre systematisch zu verbreiten. Darüber hinaus soll die Kirche der Versuchung widerstehen, ihre religiöse Sendung durch politische Mittel so abzusichern, daß der Eindruck entsteht, daß die Politik und nicht die religiöse Verkündigung als Weg zur Erlösung gilt. Es geht u. a. darum, daß die katholische Kirche überzeugend deutlich macht, daß ihre Forderungen an die Gesetzgebung soweit sie die geordnete Ausübung der Menschen- und Bürgerrechte betreffen, keine Privilegien sind, die ihr aufgrund der besonderen geschichtlichen Verdienste zukommen sollten, sondern eben Rahmenbedingungen die auch z. B. die Rechte anderer Konfessionen oder Religionen garantieren.
Es wäre auch nicht weniger wichtig, daß die einstigen Verbündeten in der Opposition einsehen, daß ihre Verdächtigungen, der aggressive Ton ihrer Kritik und ihre in vielen Punkten überholte Vorstellungen von den Absichten der Kirche eher der Bestätigung der postkommunistischen Substitutionslogik als der korrekten Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit dienen und damit - im Grunde - dem Demokratisierungsprozeß schaden. Denn es liegt im Interesse der Bewältigung der Folgen der Diktatur und im Interesse der Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft, daß das Evangelium weiterhin wie ein Sauerteig ihr Wachstum beeinflußt.
Die Erfüllung der wichtigsten Aufgaben im Hinblick auf den Aufbau der polnischen Gesellschaft im Zusammenhang mit der Neubestimmung der Rolle der katholischen Kirche, hängt von der Neuentdeckung der Gnade der Schicksalsgemeinschaft und von deren Fruchtbarmachung im gesellschaftlichen Dialog und Versöhnung ab. Es geht aber nicht um die Betonung der Verdienste, sondern vielmehr um die Annahme der Freiheit nicht als Bedrohung, sondern als Chance. Die Fortsetzung der Promotion des Dialogs und der gesellschaftlichen Versöhnung wird das deutliche Zeichen dafür sein, daß es der Kirche nicht um Macht und Einfluß geht. Auf den Katholiken, die in der Politik engagiert sind, lastet die Pflicht einer solchen Präsenz auf der politischen Bühne, die mit der Glaubwürdigkeit der Evangelisierung nicht im Widerspruch steht. Auf der Geistlichkeit lastet die Pflicht der Besonnenheit und der Unabhängigkeit von den Höhen und Tiefen der politischen Konjunktur. Es muß also im ganzen Verhalten der Kirche deutlich werden, daß sie mehr Gott als den Strukturen vertraut.


=========================================================================== In bulgarischer Sprache: Nasledstvo i poruèenie ili ima li ne¹to ob¹to me¾du novoto evangelizirane i Prosve¹tenieto [Heritage and Mission or Does New Evangelization have something to do with the Enlightenment?], w: VSELENA/OIKOYMENH II(1994), 1, s. 49-63
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ERBE UND AUFTRAG
oder
Hat die neue Evangelisierung
mit der Aufklärung etwas gemeinsam?
1. Ausgangspunkte der gegenseitigen Wahrnehmung unter den Christen aus Ost und West
Im Zusammenhang mit den Diskussionen in der Gesellschaft Jesu über den Dienst an Glauben und Gerechtigkeit waren die Augen der Mitbrüder aus West-Europa und aus Amerika vor allem auf die Situation in Lateinamerika gerichtet, woher - ohne Zweifel - eine große Herausforderung an das Christentum ausgegangen ist und immer noch ausgeht. Gleichzeitig aber - mit Ausnahme vielleicht der Bundesrepublik - blieb weitgehend unbeachtet, daß die Christen in den Ostblockstaaten über 40 Jahre lang einer ungeheuren Herausforderung ausgesetzt worden sind. Der Dienst ist dort gezwungenermassen zum Kampf um Glauben und elementare Gerechtigkeit geworden, gegen den Versuch, den (meistens) christlichen Völkern die marxistisch-leninistische Ideologie aufzuzwingen.1 Überall in diesen Staaten erlebten die Christen einen unwahrscheinlich starken ideologisch gerechtfertigten Angriff, der mit allen Mitteln des totalitären Staates geführt wurde und dessen Folge u. a. auch die Zerstörung verschiedener Strukturen, darunter auch in unserem Orden, war. Die 'Kampfmittel' der Christen waren meistens die geistigen Mittel der Glaubensüberlieferung und der Volksfrömmigkeit wie Rosenkranzgebet, Wallfahrten, Prozessionen usw. Wo das möglich war, dort hat sich eine Volkskirche gebildet; wo aber die Unterdrükung zu stark war, da sind vielerorts Untegrundstrukturen entstanden, wie z. B. Noviziate, Ausbildungsinstitute u. ä. All dies geschah bei fast völliger, über Jahrzehnte hinweg andauernder Abschirmung von der Außenwelt, die z. B. in Polen bis zum Anfang der siebziger Jahre und woanders zwanzig Jahre länger dauerte. Der Einsatz der Mitbrüder beschränkte sich nicht auf die Selbstverteidigung der Gläubigen. Es ist, wo es nur irgendwie möglich war, mehr oder weniger bewußt, immer ein Einsatz für die Rechte anderer Entrechteten (z. B. der Arbeiter, der Bauer u. ä.) gewesen. Der Glaube wurde gelebt unter den Bedingungen der zugefügten und ertragenen Ungerechtigkeit. Das hat einerseits zur Folge gehabt, daß zwischen Kirche und Gesellschaft, in der sie ihre Mission zu erfüllen hatte, eine Schicksalsgemeinschaft entstanden ist, die durch das erlittene Unrecht zusammengeschweißt wurde. Andererseits führte das zu einer relativ starken Konzentration auf die Erfahrung des Bösen, dem es zu widerstehen galt. Darüber hinaus veränderte das erlittene Unrecht die Empfindlichkeit vieler Menschen, so daß z. B. unter Umständen Probleme anderer sogar als unverständlich erscheinen können.
Was aber für die gegenseitige Wahrnehmung der Christen aus Ost und West von großer Bedeutung zu sein scheint, ist der Umstand, daß die Bedingungen, unter denen der Glaube im Osten gelebt wurde, durch die westliche Öffentlichkeit entweder politisch manipuliert (kalter Krieg!) oder aber (meistens) verkannt wurden. Auch die Ausdrucksformen des Glaubens haben zur gegenseitigen Entfremdung beigetragen. So konnte weder die Originalität der Erfahrung der Kirchen im Ostblock rechtzeitig zu Bewußtsein der Welt gebracht werden, noch waren die Christen des Ostblocks imstande, manche Entwicklungen in der nachkonziliären Kirche im Westen verstehend nachzuvollziehen. So war es im Ostblock nicht möglich, z. B. die Faszination durch den Marxismus in einigen westlichen Ländern und in Lateinamerika zu verstehen. Das womit im Osten die Erfahrung des Bösen aufs engste verbunden war, ist in vielen Kreisen des Westens als Hoffnungsträger gedeutet worden. Das Mißverständnis betraf also etwas, was auf die Verkündung der frohen Botschaft einen unmittelbaren Einfluß hatte. Als die Kontakte einigermaßen wiederhergestellt wurden, war das gegenseitige Mißtrauen die Folge: die Ostblockchristen galten ihren Mitchristen im Westen und in Lateinamerika als konservativ oder zumindest als nicht progressiv (sozial-politisch und kirchlich) und umgekehrt erschien den Christen im Ostblock vieles als gefährlicher Ausverkauf der katholischen Substanz. Vor allem galt das Liebäugeln mit dem Marxismus als besonders unverantwortlich. Das Mißtrauen wurzelte m. E. in der mißverständlichen Deutung der Erfahrung des Bösen
Im Unterschied zum Westen und zu Lateinamerika stellte die Schicksalsgemeinschaft der Kirche mit dem unterdrückten Volk nicht das Ziel, sondern vielmehr Ausgangspunkt für die Betrachtung der Chancen der frohen Botschaft und ihrer Rolle inmitten der Gesellschaft. Im Westen und in Lateinamerika ging es - wie mir scheint - u. a. darum, die Glaubwürdigkeit der Kirche gegenüber den Armen und Unterdrückten unter Beweis zu stellen. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks dagegen schien es darum zu gehen, die tatsächlich vorhandene Schicksalsgemeinschaft für die irdische und himmlische Zukunft fruchtbar zu machen.
Die Suche nach Glaubwürdigkeit für die Verkündigung der frohen Botschaft geschah im Westen unter den Bedingungen einer sich sehr schnell säkularisierenden Gesellschaft, die sich gegen die Strukturen der Sünde nicht zu verteidigen wußte. Der Deutungsfehler, der oft im Osten aber auch in manchen Kreisen des Westens (!) begangen wird - wodurch Voraussetzungen für schädliche Bündnisse entstehen - besteht darin, daß man den Säkularismus als Folge des Konzils sieht und daher nicht imstande ist, die innerkirchliche Entwicklung als dramatische Suche nach einer Glaubwürdigkeit zu deuten, die den kulturellen und sozialen Ursachen des Säkularismus' und den Strukturen der Sünde gewachsen wäre.
Diese Überlegungen, mit denen die Lage in der Umbruchsstunde skizziert wurde, scheinen mir notwendig, wenn man der Erfahrung der Christen in Ost und West gerecht werden und ihren jeweiligen originellen Beitrag zum Selbstverständnis des Christentums in der modernen Welt vorurteilslos einschätzen will.
2. Christliche Tat im Osten
Es war eine der Grundüberzeugungen der aufgeklärten Neuzeit, daß die christliche Religion ihrem Wesen nach eine reaktionäre, den Fortschritt hemmende Kraft sei. Davon versuchten die Kommunisten die Christen im ehemaligen Ostblock mit allen Mitteln zu überzeugen. Viele Christen im Westen wurden dadurch verunsichert.
Vor wenigen Jahren hat sich in Osteuropa etwas ereignet, was dieser Grundtendenz der Neuzeit zu widersprechen schien. Dies wird um so deutlicher, wenn wir mitbedenken, daß in den Jahrzehnten des Totalitarismus viele aufgeklärten Intellektuelle in Polen und woanders in die Falle der totalitären Versuchung gefallen sind, indem sie den Marxismus zum Erben des aufgeklärten Rationalismus' gekürt und ihn zur Erfüllung der menschlichen Hoffnungen erklärt haben. Dies geschah nicht nur in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Hier steht der westliche Intellektuelle noch vor einer ernsthaften selbstkritischen Prüfung, deren Fazit vor wenigen wochen Adam Michnik vorweggenommen hat, indem er schrieb, daß ein gewisser Typus der rationalistisch-aufgeklärten Weltanschauung sich in der Konfrontation mit dem Faschismus und mit dem Kommunismus als ohnmächtig erwiesen hat2.
Demgegenüber erwies sich das Christentum, vor allem in seiner katholischen Prägung, als viel besser als die Erben der Aufklärung darauf vorbereitet, dem irdischen Totalitätsanspruch mächtig und wirksam zu widersprechen. Die Bedeutung dieser christlichen Tat erschöpft sich aber nicht im Widerspruch und im Widerstand. Denn die Opposition zum Marxismus war keine bloße Gegnerschaft; sie fußte auf dem Bekenntnis zu eigenen Grundwerten und nicht nur auf der Verneinung der Gegenposition. Auf Unrecht haben die Christen mit Vergebung, mit Dialogbereitschaft, mit einem klarem Verzicht auf Gewalt reagiert. Dadurch haben sie einen Stil vorgelebt, der in die Welt Maßstäbe setzte, die ihre ganze Auswirkung unter den Christen selbst noch nicht gezeigt haben. Als Folge davon war die Entfaltung dessen, was man mit Recht Solidaritätsethos genannt hat.
Auf zwei Komponenten des Solidaritätsethos möchte ich besonders hinweisen:
- einerseits auf die ganz bewußte Wahl eines gewaltfreien Weges zur Befreiung, der den Verzicht auf Rache und die grundsätzliche Vergebungsbereitschaft beinhaltete;
- und andererseits auf die grundsätzliche Offenheit der Christen für die Zusammenarbeit mit den nicht-christlich motivierten Oppositionellen.
Die Begegnung, die sich damals zwischen den liberalen Erben der Aufklärung und vielen Christen ereignete, hat es bewirkt, daß einerseits das aufklärerische Vorurteil, demnach die christliche Kirche ihrem Wesen nach eine reaktionäre Kraft sei, mächtig erschüttert und daß andererseits der unter den Christen verbreitete Verdacht, die Menschen jener kulturellen Herkunft seien Feinde, denen Moral fehlt, in Frage gestellt werden konnte. Diese Begegnung war nicht oberflächlich. Sie hat eine unerwartete Gemeinsamkeit auf den Tag gelegt und auf beiden Seiten einen besonderen Menschentypus entstehen lassen, der seine Berufung darin sieht, aus der in Zusammenarbeit und im Dialog entstandenen Gemeinsamkeit neue Grundlage des sozialen Lebens zu machen.
Die Entwicklung, die ich hier bloß skizziert habe, die noch 1989 deutlich sichtbar und Anlaß für die Hoffnungen war, scheint in den darauf folgenden 3 Jahren ihre Auswirkung verfehlt zu haben. Wenn man die Lage der Menschen heute genauer beobachtet, merkt man, daß das Solidaritätsethos immer weniger Einfluß auf die Gestalt des menschlichen Zusammenlebens hat. Es scheint, als ob die Erinnerung daran nur noch den Wert einer erbaulichen Legende oder eines Märchens hätte, das mit dem es war einmal... anfängt. Aus dem Munde der einstigen Verbündeten hört man Äußerungen gegenüber Freund und Feind, die alles andere als versöhnlich klingen und dem Solidaritätsethos offensichtlich widersprechen. Nicht nur die alten Fronten sind entflammt, sondern auch die neuen wurden eröffnet. Die zu Grabe getragene Dialektik scheint ihren späten Sieg davon zu tragen.
Wie ist das zu erklären und zu verstehen? Müssen die Ansätze, die eine versöhnte Welt zu versprechen schienen, bloß Ansätze bleiben?
Um diese Fragen beantworten zu können, ohne gegenüber den hart geprüften Menschen ungerecht zu werden, muß die Lage der Menschen genauer beschrieben werden.

3. Zur Lage der Menschen3
a. Aus der Tatsache, daß das alte, ungerechte System im wesentlichen der Vergangenheit angehört und daß es mit der Methode des Dialogs, der Versöhnung, der Überwindung der althergebrachten Trennungslinien abgeschafft wurde, bedeutet längst noch nicht, daß diese Methode jetzt beim Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung volle Anwendung findet. Die Verwüstungen, die der totalitäre Kommunismus in der menschlichen Seele hinterlassen hat, sind sehr groß. So haben jetzt dieselben Grundwerte, auf die sich Christen und Nicht-Christen auf dem Weg zur Befreiung überzeugend geeinigt haben, ihre neue Bewährungsprobe.
Welche sind die wichtigsten Folgen der totalitären Herrschaft, die jetzt die Lage der Menschen im ehemaligen Ostblock bestimmen?
Damit wir aber nicht ungerecht über die Menschen urteilen, die der langen Unterdrückung ausgesetzt waren, dürfen wir nicht vergessen, daß ihre jetzige Lage weitgehend durch die Ungerechtigkeiten bestimmt ist, die sie erlitten haben. Wir wollen ja verstehen und nicht urteilen!

i. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Ungerechtigkeit war die Ausbeutung der Arbeit, die den arbeitenden Menschen zunehmend gedemütigt und ihn um das gesunde Selbstvertrauen gebracht hat. Er hat ja Produkte hergestellt, die mit denen des Westens nicht zu vergleichen waren. Der Anteil neuer Ideen an der Produktion und an der Organisation der Arbeit ist immer geringer geworden. Außerdem ist der natürliche Zusammenhang zwischen Arbeit und Kapital aufgehoben worden, wodurch ihm die Teilhabe an den Früchten der eigenen Arbeit nur das bloße Überleben sichern konnte. Diese Faktoren wirkten sich direkt nicht nur in der schlechten Arbeit aus, sondern auch in der Schwierigkeit, sich selbständig zu machen. Der Mensch, der kein Selbstvertrauen mehr hat, ist nicht mehr im Besitz des eigenen Wesens. Da er nicht mehr Herr über sich selbst und über die Frucht der eigenen Arbeit war, ist er zum Eigentum des Staates gemacht worden. Dies muß stets vor Augen gehalten werden, wenn man diese Menschen nicht überfordern will
ii. Ein weiterer Bestandteil der Ungerechtigkeit war der Mißbrauch der Sprache, die jahrzehntelang nicht mehr zur Kommunikation, zur Verständigung unter den Menschen, sondern zum Aufbau einer kolossalen Illusion mißbraucht wurde. Die allgegenwärtige Zensur hat für die Menschen den Sinn einer aktiven Teilnahme an der Geschichte verdunkelt und eine durchdachte, in eigener Verantwortung bezogene Stellungnahme zu den Ereignissen verhindert. Der Umgang mit der Öffentlichkeit wurde nie gelernt. Der Manipulationsgrad war so groß, daß sehr viele Menschen in eine Zusammenarbeit am Aufbau einer Welt von Illusionen hineinmanövriert wurden. Viele Tatsachen, die das Bild einer idealen Gesellschaft stören konnten, wurden einfach verschwiegen. Deshalb ist die Fähigkeit der Wahrnehmung sehr stark beeinträchtigt worden. Stereotype Vorstellungen ersetzen Wahrnehmung. Verdächtigungen und Ängste nehmen oft die Stelle der Argumentation. Etikettierung der Einzelnen und der Gruppen wird zum magischen Ersatz für die Notwendigkeit, Menschen und Situationen zu verstehen. Der Mißbrauch der Sprache durch die Propaganda hat die Möglichkeit der Verinnerlichung vieler Werte und vieler Beziehungen, z. B. mit den Minderheiten oder mit den Nachbarvölkern fast unmöglich gemacht. Dazu kommt, daß die Sprache in die Dialektik eingespannt wurde. Die Dialektik muß, um zu funktionieren, Widersprüche herstellen. Wenn es einen Widerspruch nicht gibt, dann schafft man ihn. Ohne Negation an der "richtigen" Stelle ist der "richtige" Gang der Geschichte nicht zu erzwingen. Das nicht geringe Überbleibsel dieser Dialektik, die von Verdachtsmomenten lebt, ist eine allen bekannte Tatsache, daß es in dieser Region sehr schwer ist, zwischen den verschiedenen Völkern, Kulturen und Religionen Brücken zu schlagen.
iii. Selbst die Kirchenleute betonen eher, daß Kirche Zeichen des Widerspruchs und nicht Zeichen der Versöhnung und der Liebe ist. Ja, wegen ihrer außerordentlich wichtigen Rolle im Widerstand gegen den Totalitarismus, haben die Kirchenleute - Geistlichkeit und Laien - den Umstand zu bedenken, daß sie unter mancher Rücksicht von dem bisherigen Widersacher in eine Weise bedingt wurden, die es den Dienst unter veränderten Voraussetzungen nur erschwert. Was einst dem Widerstande und der Verteidigung der kirchlichen Einheit diente, muß jetzt nicht unbedingt die Verkörperung des Geistes des Konzils bedeuten. So sind beispielsweise die sehr schwache Position der Laien und der Paternalismus des Klerus' durchaus erklärbar, aber deswegen jetzt nicht weniger anachronistisch. So ist auch ein gewisser Hang zur Idealisierung der Geschichte zwar verständlich, aber unter neuen Umständen eher lächerlich als erbaulich. Es gibt noch mehr. Die tief demoralisierende Wirkung der Ungerechtigkeit hat auch die Christen angegriffen. Manchmal sind sie sogar unter den durch die Dialektik am tiefsten bedingten Menschen, deren einzige Stärke die Negation zu sein scheint: Negation des Fremden, Negation des Unbekannten, Negation des Pluralismus, Negation der Freiheit usw. und das alles durch die Verteidigung der höchsten Werte motiviert. Auf diesem Humus der Negation keimt hier und dort ein sektiererisches, intolerantes Welt-, Kirchen-und Gottesverständnis auf.
b. Die Beschreibung der Lage des Menschen, die uns Christen herausfordert, darf sich aber nicht nur auf die Folgen der Ungerechtigkeit beschränken, sondern muß auch die Situation berücksichtigen, die nach der friedlichen Revolution entstanden ist. Diese Situation ist u. a. dadurch gekennzeichnet, daß die Begegnungen zwischen Menschen und Kirchen aus verschiedenen Ländern unter den Bedingungen des freien Austausches und der Konkurrenz stattfinden. Das legt einige Phänomene offen an den Tag, die auf die Versöhnungs- und Verständigungsarbeit nicht unwesentlichen Einfluß haben.
i. Im innerkirchlichen Raum sind die Ängste aufgetaucht, die sich auf den Austausch zwischen den Kirchen hemmend auswirken. Die jahrzehntelange Isolierung hat in den Kirchen in Ost und West ein gegenseitiges Mißtrauen hinterlassen. Die Ostblockchristen galten bei ihren Mitchristen im Westen und in Lateinamerika als konservativ oder zumindest als nicht genug progressiv und offen, und in ihrer Bindung an Rom einwenig unterentwickelt. Und umgekehrt erschienen den Christen im Ostblock das Liebäugeln mit dem Marxismus und manche radikale Tendenzen in der Theologie und in der pastoralen Praxis der nachkonziliären Zeit als zumindest gefährlich, wenn nicht gar unverantwortlich. Dieses Mißtrauen beeinflußt jetzt die gegenseitige Wahrnehmung und begünstigt die Berührungsängste. Nicht nur die einfachen Gläubigen haben verständlicherweise die Angst vor etwas, was sie nicht gut kennen. Es ist vor allem ein Teil der Priester und der Bischöfe, die besorgt sind, daß die westlichen Gläubigen ein "schlechtes Beispiel" den Christen im Osten geben würden. Diese Befürchtung - neben anderen Gründen - motiviert die Reserve, mit der die Kirchen an den Jungendaustausch zwischen Ost und West schauen. Viele Priester und Bischöfe befürchten, daß sich der Glaube der unvorbereiteten Gläubigen schwächt und durch manche Ideen negativ beeinflußt wird. Außer den durchaus gerechtfertigten Befürchtungen, kann man aber auch eine Art paternalistisch-klerikaler Angst vor der Stärkung des Selbstbewußtseins der Laien erkennen, die im Westen allgemein sich ihrer Rolle in der Kirche bewußter sind als ihre Glaubensbrüder und -schwester in Osteuropa. Die Furcht vor säkularisierenden Einflüssen läßt vergessen, daß sich die Kirchen im Westen gewissermassen stellvertretend4 für den Osten mit dem Säkularismus und seinen Folgen täglich auf verschiedenen Ebenen auseinandersetzen und daß sie deshalb über Erfahrungen verfügen, die man kreativ auch im Osten nutzen kann, nicht zuletzt um die Fehlentwicklungen zu meiden.
ii. Die gesellschaftliche Entwicklung nach den sanften Revolutionen zeigt sehr deutlich, daß die Motive, die zur Abschaffung des Kommunismus führten und auf die sich nun die Reformbewegung stützt, sind nicht nur die großzügig bejahten ideellen Werte wie soziale Gerechtigkeit, zwischenmenschliche Solidarität, Menschenrechte u. ä., sondern - und vielleicht vor allem - das lange unterdrückte und frustrierte Verlangen nach dem Güterkonsum auf höherem Niveau. Der Machtkampf, in dem jedes Mittel recht ist, die schamlose Identifizierung der Gruppeninteressen mit dem bonum commune , das und dergleichen mehr sind deutliche Anzeichen dafür, daß Grundwerte, die den Umbruch motiviert haben, durch den Konsumismus und andere Folgen des wilden Kapitalismus' ernsthaft gefährdet sind. Die Lebensumstände begünstigen die Orientierung nach den sozialen Grundwerten nicht; ja, sie antagonisieren Menschen, Gruppen und sogar Völker untereinander.
iii. Es breitet sich eine Enttäuschung wegen der Verspätung des Wohlstandes. Diese Enttäuschung wächst proportional zu den materiellen Schwierigkeiten. Der Markt ist voll von Versuchungen, die Brieftasche aber ist leer - so umschrieb der Schriftsteller Szczypiorski die Lage. Die Enttäuschung wird um so schmerzlicher empfunden, weil es den Menschen das Verständnis für die Komplexität der modernen Marktwirtschaft fehlt. Diese psychologisch unbequeme Lage wird von den populistischen Demagogen prompt ausgenützt. Sie erklären gerne, wer dafür schuldig ist und lenken die Aufmerksamkeit der Menschen auf den politischen Gegner, auf die Ausländer, die ausbeuten. Leider werden dadurch die Motivationen zum Einsatz für das bonum commune und für die Genesung z. B. der Arbeitswelt geschwächt und die Gruppen- bzw. Nationalegoismen gestärkt. Das macht die Begegnung unter den Völkern nicht leichter. Für die anderen Völker in Not empfindet man nicht Mitgefühl und Solidarität, sondern sie werden eher als Konkurrenten angesehen und gefürchtet. Der Wettlauf zum Wohlstand bewirkt es, daß die Völker Osteuropas unkritisch in die Ungerechtigkeitsstrukturen der Weltwirtschaft eingehen. Die universale Dimension der eigenen Probleme und deren Lösungen muß vermittelt werden, wenn die Versöhnungsarbeit nicht als eine unrealistische Aufgabe betrachtet werden soll. Die Kirche mit ihrem universalistischen Blick kann hier unschätzbaren Dienste leisten.
iv. Es ist auch allgemeine Erfahrung im Osten, daß die so heiß ersehnten und mit viel Opfern erkämpften demokratischen Veränderungen mehr Probleme schaffen als lösen. Denken wir z. B. an die Pressefreiheit, die viele Menschen vor ihnen bisher unbekannten Orientierungsprobleme stellt. Die Freiheit hat vielen Menschen das Leben erschwert. Die für die Marktwirtschaft notwendige Freiheit bedroht den Arbeiter mit dem Gespenst der bislang unbekannten Arbeitslosigkeit. Der Kleinbauer fühlt sich durch die ausländische Konkurrenz bedroht und weiß nicht mehr wohin mit seiner Produktion. Ganze soziale Schichten fühlen sich Opfer der Veränderungen, die ohne ihren Einsatz gar nicht möglich gewesen wären. Die Freiheit in der postkommunistischen Gesellschaft bedeutet oft Flucht vom Einsatz für das Gemeinwohl in den Individualismus. Die Probleme mit der Freiheit sind im Grunde Probleme des Umgangs mit anderen Menschen, Gruppen, Interessen, Ideen usw. Es sind Probleme der Verantwortung für sich selbst, für Familie, Kirche, Staat... Früher erwartete man Identifikation mit Kirche oder mit Partei. Heute wird die Identität inmitten eines pluralistischen Angebotes gefordert; eine Identität, die nicht bloß Identifikation mit Gruppen, Symbolen und Traditionen ist, sondern persönliche Verinnerlichung der Werte bedeutet, auf deren Basis dann die Verantwortung im Raum der Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft und der Kirche sich frei, d. h. dialogisch (nicht dialektisch!) entfalten kann. Die Identitätsfindung bzw. ihre Vertiefung darf keine Umerziehung sein. Sie selbst kann nur in Freiheit und inmitten des wirklichen Lebens, als sein Teil, erfolgen.
Neben der Beschreibung der Lage der Menschen, die viel zur Aufhellung dieser schwieriger Fragen beitragen kann, ist es notwendig unsere Aufmerksamkeit auf das Christentum zu lenken, das in dieser Stunde zur Unterscheidung der Geister aufgefordert ist, damit es in Ost und West die Gestalt findet, die der Welt zum Zeichen der Gnade werden kann.
4. Welches Christentum?
Die jetzt entstandene Lage fordert uns Christen in Ost und West auf unserem eigenen Gebiet zu einer gemeinsamen Antwort heraus. Mißtrauen oder gar Verdächtigung sind mehr denn je unter uns fehl am Platz. Eine getrennte Buchführung von Ost und West ist den Herausforderungen und den neuen Möglichkeiten nicht mehr angemessen. In Ost und West sind wir gezwungen nach dem Christentum zu fragen, ob es nur dazu gut ist, den Widerstand zu motivieren, d. h. Zeichen des Widerspruchs zu sein, oder darüber hinaus ob es auch dazu fähig ist, die Identitätsfindung der Menschen inmitten der Welt so zu orientieren, daß eine dialogische Gemeinschaft sich entfalten kann. Man ist versucht auf diese Frage eine schnelle Antwort zu geben: Selbstverständlich, das Christentum ist mehr als Zeichen des Widerspruchs. Es ist auch Bejahung der Schöpfung; es ist dialogische Versöhnungs- und Verständigungsbereitschaft. Das Christentum existiert aber nicht abstrakt als ens mentis, sondern geschichtlich und wird von der Geschichte, die es beeinflußen will, ihrerseits beeinflußt. Dank des Spiegels, den wir füreinander sein können, haben wir jetzt inmitten der geschichtlichen Umwälzungen die einmalige Chance, die negativen Einflüße in ganzer Ehrlichkeit wahrzunehmen. Wir im Osten verstehen es langsam, daß es uns nach den Wunden des Totalitarismus' gar nicht leicht ist, z. B. unseren Beitrag zur Versöhnung zu leisten. Sie im Westen können z. B. den Prozeß der mutigen Auseinandersetzung mit dem Säkularismus durch eine selbstkritische Läuterung eigener Präsenz in der Welt aus Rücksicht auf die Originalität der christlichen Botschaft und auf die Einheit ergänzen. Damit kann gemeint werden, was der Philosoph Ko³akowski so beschrieben hat: Das Christentum unseres Jahrhunderts lebt so sehr in Angst vor der aufklärerischen Kritik, daß es zumindest in der öffentlichen Lehrarbeit nicht mehr den Mut aufbringt, zahlreiche seiner Wesensbestandteile, die mit der Moderne deutlich zerstritten sind, zu präsentieren; oder auch etwas, was uns im Osten hellhörig macht, wenn wir von Vertretern der Religionssoziologie hören, daß z. B. die kirchliche Sozial- und Schularbeit in der BRD ein gesellschaftliches Teilsystem darstellt, das unabhängig von der Motivation (d.h. unabhängig vom Glauben - A. d. V.) der Mitglieder (und Mitarbeiter) Leistungen erbringt.5
Sehen wir nun näher an, wie sich einerseits der totalitäre Druck und andererseits die Auseinandersetzung mit dem Säkularismus auf die Galaubensweise der Christen ausgewirkt haben.
Wie schon erwähnt, war die Erfahrung des Lebens unter der totalitären Herrschaft des Kommunismus für Einzelne und Gemeinden eine nicht zu verharmlosende Erfahrung des Bösen. Der Totalitarismus hat das böse Gesicht der Welt gezeigt, vor allem das böse Gesicht der Mitmenschen. Der Nächste könnte jemand sein, der Spitzel und Verräter ist. Zugleich aber stellte sich der Totalitarismus als eine Parodie der heilbringenden Religion dar. In seiner Ideologie bestätigte er die Bosheit der Welt und bot die Befreiung von dem Bösen an, d. h. die Aufhebung der bedrohenden Differenzen in einem Kollektiv. Der Weg zu diesem Kollektiv war der revolutionäre Terror.
In den Christen des Westens lebte die Erfahrung des Bösen nicht nur als Erinnerung an Faschismus und an Kriege dieses Jahrhunderts. Sie sahen das böse Gesicht der Welt auch in verschiedenen strukturellen Formen der Versklavung und der Ungerechtigkeit. Sie sahen sich als Gläubige einer verlängerten, radikalen Kritik ausgesetzt, die sie und ihre Wertvorstellung kulturell marginalisierte. Viele erlebten dabei schmerzhaft Versäumnisse und Sünden ihrer Kirche.
Als Antwort auf diese Erfahrung des Bösen versuchten die Christen ihre eigene Identität zu definieren und in eine geschichtlich wirksame Rolle umzusetzen. Diese Antwort scheint in drei Richtungen6 zu gehen.
Erste Richtung ist durch das starke Bewußtsein der Bosheit der geschichtlichen Welt gekennzeichnet. Für die einen ist sie unverändert geblieben, trotz des Zusammenbruchs des Totalitarismus'. Für die anderen entfaltete das Böse seine Kraft so deutlich, daß es sogar den Weinberg des Herrn verwüstete. Deshalb ist sowohl für die einen als auch für die anderen die Freiheit der Menschen eher ein Risiko als eine Chance. Sie soll lediglich dazu dienen, sich in die eng gefaßte Gemeinschaft der Erlösten - die Kirche - einzureihen und ihren Weisungen zu folgen. Außerhalb dieses heiligen Kreises einer spezifisch verstandenen Kirche ist alles verdächtigt, alles bedrohlich. Nichts ist echt: Kryptokommunisten oder andere gottlose Menschen, versteckte Feinde sind überall, womöglich sogar in eigenen Reihen. Dieses wahrhaft neomanichäische Christentumsverständnis hat freilich seine politische Verlängerung. Im politischen Kampf findet diese Welt- und Menschensicht ihre praktische Anwendung, die das Christentum um seine Zeugniskraft bringt. Das Evangelium wird hier keine frohe und froh machende Botschaft, sondern geradezu eine schlechte Botschaft: das Wort der Verdammung.
Eine zweite Richtung ist durch die Reduktion des christlichen Glaubens auf seine soziale Funktion gekennzeichnet. Den Kommunisten ist die Verstaatlichung des Glaubens und der kirchlichen Gemeinschaft nicht gelungen. Der Glaube ist aber Verbündeter der Opposition geworden. Die Erfüllung seiner sozialen Rolle in der Opposition hat die Erwartung geweckt, die Religion könne bei der Neuordnung sozial und politisch nützlich gemacht werden. Die Erfahrung der sozialen Ungerechtigkeit, so charakteristisch für die westliche Sensibilität, hat dazu beigetragen, daß die soziale Dimension des Glaubens als seine wesentliche Dimension entdeckt wurde. Zugleich aber geschah etwas ähnliches wie jetzt im Osten: eine Reduktion des Glaubens auf seine politische und soziale Funktion. So erklärt sich eine im Osten wie im Westen wirksame Erwartung, daß die sichtbare Kirche als politische Kraft auftritt und sich zu sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fragen zur Unterstützung der Reformen bzw. zur Unterstützung dieser oder jener politischen Richtung äußert. Ihre eigentliche religiöse Sendung tritt da in den Hintergrund und wird gewissermassen zur Gelegenheit für die Erfüllung ihrer sozialen Funktion. Die Religion riskiert hier zum Werkzeug und zum Mittel der Politik, reduziert zu werden. Der Christ wird zum Aktivist. Die Kirche steht da in einer sehr unbequemen Position: äußert sie sich, wird sie durch die einen prompt vereinnahmt und durch die anderen eifrig der Einmischung bezichtigt; äußert sie sich nicht, wird ihr Schweigen von allen ausgenützt. Der sozialen Reduktion der Religion gegenüber steht die Versuchung der Kirche (vor allem in Osteuropa), sich der politischen Einflußnahme für die religiösen Zwecke zu bedienen. Als Reaktion auf diese beiden Haltungen wird die alte Parole laut, daß Religion Privatsache bleiben soll.
Die dritte Richtung, in die sich das christliche Bewußtsein entwickelt, ist durch die Einsicht in die Notwendigkeit der neuen Evangelisierung bestimmt. Diese Einsicht entspringt nicht der Wahrnehmung des Einflußverlustes des Christentums, sondern der Wahrnehmung der Schäden, die der Totalitarismus im Osten und der Säkularismus im Westen in der christlichen (menschlichen) Seele eingerichtet hat. Der christliche Glaube soll sich aus seiner Quelle erneuern, damit er fähig wird Salz der Erde, Licht der Welt, frohe und frohmachende Botschaft für die Welt zu sein. Es geht also nicht um die Wiedergewinnung des verlorenen Einflusses, sondern um einen unentbehrlichen, uneigennützigen Dienst, der die Motive des Lebens und der Hoffnung erneuert und stärkt, in einer Welt, die daran mangelt. Die persönliche, nicht-konformistische Entscheidung wird da gerade gefordert. Mir scheint es, daß der Aufruf des heiligen Vaters zur neuen Evangelisierung vor diesem Hintergrund besser verstanden werden kann.
***
Die Seele der Welt ist krank. Das ist keine neomanichäische Hiobsbotschaft! Das ist eine demütige Wahrnehmung, die den Christenmenschen auch betrifft. Auf ihrer Grundlage ergeht an die freien Menschen ein ehrliches Wort von der Liebe Gottes, die durch Jesus Christus in die Welt Hoffnung einpflanzte, daß Menschen füreinander Brüder und Schwester sein können. Der Christ weiß sich in seiner Wahrnehmung nicht alleine. Die ehrlichen Erben der Aufklärung geben sie auch zu und revidieren ihre Utopien. Sie gestehen ihre Angst vor einer Welt, in der alles ethisch neutral sei. Sie erkennen, daß die Würde des Menschen und seine Freiheit durch den Glauben an Gott nicht gemindert sondern vor Koniunkturalismus und Unterjohung wirksam geschützt werden können. Christ und der Erbe der Aufklärung bedrohen einander nicht mehr. Das, in Ansätzen, scheint die Lehre dieser geschichtlichen Stunde zu sein. Wir können anfangen, gemeinsam die Epoche zu schließen, die mit der französischen Revolution angefangen hat. Eine neue Oktoberrevolution dürfte für niemanden mehr eine Hoffnung sein. Deshalb ist es für alle wichtiger denn je, daß es lebendige Kirche gibt, die es wagt, die ewige Erlösung zu verkünden und ihr entgegen zu leben.
Summary
Heritage and Mission
or
Does New Evangelization have something to do with the Enlightenment?
Christianity in post-communist countries and in those of Western Europe has developed over the last decades in very different conditions. What seems to influence the different outlooks of Christians from East and West is their rather different experience of evil. Many christians in the West were fascinated by Marxism and hoped that it would provide an answer to social evils. This was unacceptable to christians from the East, because communism was linked to their experience of injustice. After the fall of the iron curtain, mutual mistrust is hindering fruitful dialogue between christians from a once divided Europe. Meanwhile, in post-communist Europe, not only did christianity prove less susceptible to the temptation of totalitarianism than did the intellectuals who were heirs to the Enlightenment, but also became a force behind the changes which lead to its downfall. Democratic oppostion provided a framework for a rapprochement between the heirs of the Enlightenment and christianity which lead to the overcoming of mutual prejudices. Later events, however, seemed to negate this fact. Will these possibilities for an historic peace remain an unfulfilled hope? In order to answer this question, the author analyses the situation of people in Central and Eastern Europe. This situation is specified by, on the one hand, the effects of decades of injustice, that is: the effects of a world of work distorted by the exploitation of labour; the effects of speech distorted by an abuse of language at the service of a system of lies and illusions; finally, the effects of a negative attitude, conditioned by the experience of being in opposition. On the other hand, the situation is specified by the effects of social, economic and political change which are not always positive. For example, fear in the face of an exchange of experiences with the West and a confrontation with secularism, the appearance of an agressive consumerism which undermines basic social values, disenchantment caused by the delay in creating waelth, difficulties in dealing with freedom, democracy and the mechanisms of the market economy as well as with the discovery of one's own identity. The human situation, outlined in this article, constitutes a challenge for christianity on its own terrain. In response to these challenges, christian awrareness seems to be developing in three directions: The first seems to be still under the influence of the evil once experienced, which has now, apparently, become even greater. The response to this situation is a neo-manichean condemnation of the world accompanied by integrism in the sphere of politics. The second is characterised by a reduction of faith to social functions and an attempt to ally christianity with support for economic and political reform. The third, towards which christian awareness is evolving, is the conviction that a New Evangelisation is necessary, leading to a renewal of the Church community as well as a christian presence in the world which could become for it a sign of hope. A look at the situation of the world can still facilitate the continuation of dialogue between christians and sincere heirs of the Enlightenment; a dialogue begun during the years of common opposition which is needed today in order to defend the dignity of man against the creation of a world in which everything will be ethically neutral.
 

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Zur Aktualität der ethischen Grundlagen der Arbeit des Kreisauer Kreises, in: Der Widerstand des Kreisauer-Kreises. Moralische Bedeutung und politische Relevanz nach fünfzig Jahren. Herausgege-ben von der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg in Zusammen-arbeit mit der Stiftung Kreisau für Europäische Verständi-gung und der Kreisau-Initiative Berlin, Februar 1994, S. 23-26
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 ZUR AKTUALITÄT DER ETHISCHEN GRUNDLAGEN
 DER ARBEIT DES KREISAUER KREISES

1. Vorbemerkung
 Mein Referat hat eine ungewöhnte, fast thetische Form, weil das, was ich darlegen möchte ist nicht eine historisch durchleuchtete Analyse der ethischen Begrifflichkeit der unterschiedlichen Beiträge, die in die Dokumente des Kreisauer Kreises eingeflossen sind. Dazu fehlt mir die notwendige Kenntnis der Hintergründe, vor denen die einzelnen Kreisauer gedacht und gehandelt haben. Deshalb behandle ich die Texte der Dokumente so wie sie in dem von Roman Bleistein herausgegebenen Band Dossier: Kreisauer Kreis vorliegen, gewissermaßen als einen, bis zu einem gewissen Grad einheitlichen und fertigen Text. So unterscheide ich z. B. nicht zwischen den verschiedenen Inspirationsquellen und Ansätzen, die für die einzelnen Kreisauer wichtig gewesen sein konnten.
 Darüber hinaus behandle ich den Text als Ausdruck einer ethisch bedeutsamen Tat, die als solche bedenkenswert ist. Dies besagt, daß für mich die Tat der Kreisauer mehr ist als ein gutes Beispiel, das unter ähnlichen Umständen nachahmenswert wäre. Es ist eine Tat, die viel Licht auf die conditio humana überhaupt wirft, vor allem darauf, was der menschlichen Existenz Halt und Orientierung schenkt und dies in einer Stunde der äußersten Herausforderung, wo die Mehrheit den Weg des Konformis-mus gewählt hat. Es geht mir also darum, die bezeugte Erfahrung der Frauen und Männer des Kreisauer Kreises so zu betrachten, daß die Aktualität und die Zukunftsträchtigkeit der leitenden ethischen Werte aufleuchtet, die die Kreisauer mit dem Opfer ihres Lebens bewährt haben. Mit anderen Worten, möchte ich eine Perspektive vorschlagen, von der her die kritischen Fragen an die Gegenwart gestellt werden können.
 Die Tat der Kreisauer verdient es, besonders beachtet zu werden, weil sie sich unter Umständen der äußersten Mißachtung der elementaren Werte und der ungeheuren Bedrohung für die Beteilig-ten ereignet hat. Wir wissen wie wenig man damals tun konnte. Um so wichtiger ist es, eine Tat zu betrachten, die unter diesen Umständen versucht wurde. Es war eine Tat, die die Keime der Hoffnung inmitten der Hoffnungslosigkeit säte. Die Tat der Kreisauer gewinnt für uns eine besondere ethische Bedeutung, weil sie in einer bewußt reflektierten Vorarbeit für eine menschenwürdige Zukunft bestanden hat. Die Bedeutung dieser Vorarbeit der Kreisauer besteht darin, daß es sie unter diesen Umständen gegeben hat und daß sie positiv motiviert wurde. Sie stützte sich nämlich nicht bloß auf die Gegnerschaft zur nationalsozialisti-schen Ideologie, sondern auf die argumentierte Einschätzung der Tragfähigkeit der elementaren Werte, für die man eingetreten ist und deren Wiederherstellung damals mehr als notwendig erschien. Ethisch relevant und herausfordernd werden deshalb sowohl die Methode dieser Vorarbeit als auch ihre Inhalte. Es ist zweitrangig, ob etwas von den damal entworfenen Projekten direkt verwirklicht werden konnte.
 Die Frage, mit der ich die Tat der Kreisauer angehe, kann folgedermaßen formuliert werden: Welche sind die Grundwerte und welche sind ihre Verwirklichungsweisen, die nicht nur eine Widerholung der Gewaltherrschaft unmöglich machen, sondern auch positive Zukunftgestalltung mehr als episodisch fördern? Diese Frage kann man durch eine andere, merh provokative ergänzen: Muß man erst durch die tragischen Ereignisse, durch den "Triumph des Bösen" erschüttert werden, um moralisch zu handeln?

2. Ethische Lebendigkeit des Christentums
 Der ganz bewußte Rückgriff auf das christliche Welt- und Menschenbild, der in dem persönlich gelebten Glauben der meisten Kreisauer verwurzelt war, bestätigt vor allem die ethische Lebendigkeit des Christen-tums. Das Christentum, mit dem wir hier konfrontiert sind, ist mehr als bloß eine private Inspirationsquelle. Es hat sich fähig erwiesen, unter den Umständen der äußersten Gefährdung, die Keime der ethisch motivierten Erneuerung inmitten der Gesellschaft einzupflanzen. Das Einpflanzen der Ethik inmitten der Gesellschaft diente nicht dem Machtkampf oder der Vorbereitung eines Umsturzes, sondern der Wiederherstellung der Würde des Menschen, der als Bürger und Arbeiter in Folge der Anwendung eines falschen Menschenbildes gedemütigt wurde und seine Stellung im gesellschaftlichen Kosmos verloren hat.

3. Zukunftsgestaltung im Geiste des christlichen Ethos
 Die Arbeit für die menschenwürdige Zukunft war damals für die Kreisauer und ist heute für uns - wenn auch unter völlig anderen Voraussetzungen - das Wichtigste. Damals wie heute galt es zu verhindern, daß sich eine totalitäre Gewaltherrschaft wiederholt. Die Erfüllung dieser Aufgabe sahen die Kreisauer in Verbindung mit der Wiederein-setzung des christlichen Ethos an die Basis der europäischen Gesellschaft. Sie erkannten die Liebe als das entscheidende Ordnungspotential der Zukunft an. Sie gingen offensichtlich davon aus, daß das gelebte Christentum, das ihnen die Kraft zum Widerstand gegeben hat, auch das tragfähige Basis für den Aufbau der Zukunft ausmacht, zumal die Gewaltherrschaft eindeutig mit der Abkehr vom Christentum und von seinem Menschen-bild zusammen-hing.
 Diese Erfahrung deckt sich wesentlich mit der Erfahrung des Widerstandes im kommunistisch regierten Polen. Daher sind für die Menschen, die in ihrer heutigen und künftigen Arbeit die Tat der Kreisauer ernstneh-men wollen, die Fragen nicht zu meiden, die mit der Säkularisierung des Abendlan-des zusammenhängen. Hier nur einige von diesen Fragen, die bis in die Einzelheiten der heutigen Debatten hineinreichen. Irren diejenigen, die befürchten, daß das Schlimmste wieder passieren kann, wenn das christliche Ethos in der Säkularisierung untergeht, wenn z.B. das elementarste Menschen-echt auf Leben relativiert bzw. in seiner Geltung eingeschränkt wird? Werden die Menschenrechte, die eine so fundamentale Rolle im Erneuerungsprogramm der Kreisauer gespielt haben, überhaupt ihre uneingeschränkte Geltung behaupten können, wenn sie aufhören, ein Teil der von Gott gesetzten Ordnung zu sein? Kann in der säkularisierten Welt noch der Grundsatz gelten, der für die Kreisauer wie selbstverständlich gegolten hat?
 Der Staat ist nicht allmächtig. Seine unaufhebbare Schranke ist das Naturrecht. (...) Kein unabdingba-rer Satz des Naturrechts kann durch die staatliche Gesetzgebungsmacht beseitigt werden. Das gilt von der Unantastbarkeit des Lebens (...), der Ehe, der Frei-heit, der Wahrheit ebenso wie des Eigentums.
 

Haben wir heute den Mut einen danach nachgebildeten Satz zu bejahen, der in etwa so formuliert werden könnte:

 Die öffentliche Meinung ist nicht allmächtig. Seine unaufhebbare Schranke ist die Wahrheit...
 Zu diesen gewichtigen Fragen kommen noch andere hinzu, die die Rolle des gelebten
Christentums in dem Einsatz für eine menschenwürdigere Zukunft weiter problematisieren. Ist der Gottesdienst und das persönliche bzw. gemeinschaftliche Gebet für die gesellschaftliche Erneuerung wirklich belanglos? Soll die Hinführung zur religiösen Erfahrung im sozialpädagogischen Angebot einen Platz erhalten?
 Ich teile die Überzeugung der Kreisauer, wonach das Problem  der Sicherung gegen die Staats-willkür und Volkswillkür, gegen das Diktat der blind, obwohl mehrheitlich vertretenen Meinung ohne eine religiöse Erneuerung nicht lösbar ist (S. 202). Ich gestehe, ich habe Angst vor einer Gesellschaft und einer Kultur, wo über die Religion nur geredet wird, weil ihr die Initiation in die religiöse Erfahrung zu wenig obiektiv erscheint. Ich habe Angst vor einer Kirche die sich des religionssoziologischen Befundes rühmt, wonach die kirchliche Sozial- und Schularbeit in Deutschland ein gesellschaftliches Teilsystem darstellt, das unabhängig von der Motivation (d.h. unabhängig vom Glauben - A. d. V.) der Mitglieder (und Mitarbeiter) Leistungen erbringt.  Ich habe Angst vor einer Gesellschaft, wo das Leistungsprinzip das Ordnungspotential der Liebe verdrängt.

4. Dialogische Universalität des christlichen Ethos.
 Das christliche Ethos ist vom Haus aus universell. Dies besagt in erster Linie nicht, daß es in allgemeinverbindlichen Sätzen zu fassen ist, sondern daß es zu seinem Wesen sowohl die persönliche Einsicht und freie Gewissensentscheidung als auch die auf dialogischem Wege gesuchte Verständigung Vieler gehören. Die ganze durch das christliche Ethos durchwebte Ordnung basiert auf dem Dialog aller mit allen. Dazu gehört wesentlich die Hörbereitschaft. Diese Ordnung ist ökumenisch und dialogisch oder sie ist nicht christlich. Die Kreisauer haben das konsequent durchgeführt.
 Daraus ergeben sich große Konse-quenzen für die Arbeitsweise derer, die sich in ihrem Geiste einsetzen wollen. In diesem Zusammenhang besteht die wichtigste Aufgabe wohl darin, die Voraussetzungen für die Überwindung der Sprachlosigkeit und der Versklavung der Menschen durch Parolen und Lügen zu schaffen. In der Arbeit im Sinne der Kreisauer sollen daher einige Grundunterscheidungen wie die in JA und NEIN, GUT und BÖSE, WAHR und FALSCH und nicht zuletzt die Unterscheidung in HIMMEL und ERDE zu ihrer Geltung kommen. Eine radikale Relativierung dieser elementaren Unterscheidungen macht eine nihilistische Pervertie-rung der Sprache möglich. Es besteht die Notwendigkeit, daß die Arbeit im Sinne der Kreisauer der weiteren Zerstö-rung und dem weiteren Mißbrauch der Sprache entgegenwirkt. Positiv ausge-rückt: Die Arbeit im Sinne der Kreisauer soll das ihr mögliche tun, damit die Sprache der Über-Setzung des Fremden ins Eigene und der Verstän-digung unter den Menschen dient. Darin sind verschiedene Aufgaben angesprochen wie z.B. die Abschaffung der Vorurteile, die Vertrauensbildung, die Aufdeckung der Manipula-tionen zu Machtzwecken, die Aufmerksamkeit für Andersdenkende, Verzicht auf Ideologisierung usw.

5. Dienst am Frieden statt Machtpolitik
 Für die Kreisauer war die Wiederherstellung des christlichen Ethos mit seinem Menschenbild, dem Dienst am Frieden gleich. Der Friede wird aber besonders durch die Machtpolitik gefährdet. Deshalb erfordert er die Schaffung einer übernationalen und überstaatlichen - europäischen und planetarischen - Ordnung, deren Kraft das Gespräch und nicht Gewaltausübung ist. Die Völker, die in ihrem Inneren vom Unfrieden zerfressen sind, werden unfähig, Frieden zu schaffen und zu erhalten. Damit sind einige nach wie vor aktuelle Aufgaben angesprochen, die mit dem gesellschaftlichen Dialog zusammenhängen.

6. Aufmerksamkeit für soziale Gerechtigkeit
 Die personalistische Einstellung darf nicht die Fragen der sozialen Gerechtigkeit außer Acht lassen. Die Wiederherstellung der Würde der menschlichen Person kann nicht am Arbeiter und seiner Welt vorbeigehen. Die innere Festigung und äußere Sicherung der personalen Würde jedes Einzelnen bilden das Ziel der Neuordnung auch im Bereich der Arbeit und der Wirtschaft. Dem Geiste der Kreisauer entsprechend gilt es, sowohl die Reflexion als auch die Initiativen zu unterstützen, die die Mitbestimmung und Mitverantwortung der Menschen fördern.

7. Das Gesetz der Bewährung
 Zum Schluß muß noch daran erinnert werden, daß die Arbeit im Sinne der Kreisauer - auch wenn Sie den institutionellen Charakter annimmt - das christliche Ethos durch persönlichen Einsatz durch Wort und Tat bewährt. Die unverzichtbare institutionelle Ausformung kann den persönlichen Einsatz nicht ersetzen. Die Risikobereitschaft ist gefragt. Freilich, besteht das Risiko heute nicht in der möglichen Verfolgung, sondern eher in dem gesellschaftlichen Boikot als Reaktion auf die Verweigerung des Konformismus. Was die Kreisauer vom Staat und von der Wirtschaft gesagt haben, daß sie kein Selbstzweck sind, gilt auch von dem ganzen Einsatz in ihrem Sinne.


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